seen,2002
anlässlich des Internetauftrittes bei www.galerie-x.de
 
     
 

Es ist beinahe so, als würde man mit dem Auto im Stau stehen. Es ist nichts zu tun, außer den Wagen alle paar Minuten ein paar Meter vorwärts zu bewegen. Mehr oder weniger verstohlen beobachtet man die Nachbarn in ihren privatöffentlichen Innenräumen und versucht, sich selbst nicht ganz zu vergessen. Man stellt Persönlichkeitsprofile auf, zieht Schlüsse aus den wenigen Dingen, die dem genormten Autoinnenraum des anderen eine persönliche Note geben.

Mit dem Programm seen... scheint eine ähnliche Situation zu entstehen, indem es einen Teil des Monitors in eine Kamera verwandelt, die den Betrachter auf beliebige Bildschirme schickt. Gleichzeitig kann er sich live andere, per Zufallsgenerator ausgewählte, Teilnehmer anschauen.

Es passiert nicht viel, die Bildqualität ist schlecht und die Einblicke in andere Privatsphären unspektakulär. Es gibt, wenn überhaupt, minimale Handlungen und doch reizen die übertragenen Bilder die Vorstellung, werden mögliche Identitäten der gezeigten Personen erstellt, die Umgebung des eingeschränkten Kamerafeldes ergänzt.

Wie bei anderen meiner Arbeiten täuscht seen ...auf den ersten Blick Realität vor, indem eine Programmroutine abgespielt wird. Doch geht es auch hier nicht um das überzeugendste, bestmögliche Täuschungsmanöver, um eine handwerklich perfekte Imitation des Vorgangs. Dem Benutzer wird relativ schnell klar, dass sein Bildschirm keine Webcam ist und auch die Filme der anderen Teilnehmer nicht live und zeitgleich auf seinem Bildsschirm erscheinen. Die Reise, die er in die Räume anderer Teilnehmer unternimmt, ist eine vorgestellte, gedanklich und emotional; er kann die Positionen wechseln, er weiß, dass er aus dem Gesehenen Geschichten erfindet, dass alles was er sieht, erfunden ist....

Und doch hegt man leise Zweifel: könnte die Kamera nicht eventuell echt sein? Zuckt es nicht leise im Aufnahmefeld ? Sollte man sich nicht doch kämmen, bevor man sich vor den Monitor setzt?

Dirk Schlichting

 
     
 

zurück

Übersicht: ortsbezogene Arbeiten