„Das Hinterzimmer des Architekten“

Rauminstallation von Dirk Schlichting

Das Architekturbüro von Susanne Schamp und Richard Schmalöer umfasst, direkt neben einem kleinen Flur zu den Sanitärräumen, einen ungenutzten Nebenraum. Als „Hinterzimmer des Architekten“ wird dieser zurzeit für Ausstellungen genutzt und in diesem Zusammenhang nun auch dem Künstler Dirk Schlichting für eine Installation zur Verfügung gestellt.

Schon beim Durchschreiten der Tür in den Sanitär- und Küchenbereich des Architekturbüros kommt Verunsicherung auf. Aus den repräsentativ gestalteten Büroräumen gelangt man hier in einen offenbar eher privat genutzten Bereich, dem eine gewisse Enge und Intimität zu Eigen ist. Der eigentliche Ausstellungsraum ist dagegen wieder recht geräumig, doch zum Zwecke der Ausstellung weitestgehend abgedunkelt.

Wenn wir diesen dämmrigen Raum betreten, lassen wir den gewöhnlichen Büroalltag, damit gleichzeitig auch die normalen Zeitabläufe hinter uns. Es verschieben sich die Dimensionen von Raum und Zeit.

Im Zentrum des Raumes, an einer Straßenecke, ist vor uns ein ganz banales Einfamilienhaus, ein sogenanntes „Siedlerhäuschen“ errichtet, so wie es uns in seiner einfachen, um nicht zu sagen bescheidenen Architektur auch aus Vorstadtsiedlungen im Ruhrgebiet hinlänglich bekannt ist. Mit der Dachkonstruktion stößt es nahezu an einen Betonbalken, der den Raum quer und in einer leicht abfallenden Bewegung durchzieht. Auch die Straßenlaterne, im nüchternen Stil der 50er Jahre nachgebaut, ist auf den Verlauf des Balkens bezogen und durch diesen in ihrer Größe bestimmt. Zwischen den Dimensionen des Raumes und den in diesem aufwachsenden Versatzstücken baut sich ein Spannungsfeld auf. Der Spalt zwischen Haus und Innenraum ist so eng gefasst, dass ein weiteres Aufwachsen des Hauses verhindert ist, gleichzeitig aber auch bis zum Aufsprengen des Raumes möglich erscheint.

Auch die Installation selbst ist nicht bis unmittelbar an uns herangeführt. Das Haus umfassen ein grüner Teppichrasen und eine Steinpflasterung, die jedoch einen breiten Streifen des Parkettfußbodens unbedeckt lassen. Der Einbau in den Raum bleibt als solcher zu erkennen. In seiner Raum sprengenden Größe rückt die Installation uns zwar sehr nahe, durch die fort bestehende Abgrenzung ist jedoch die Sicherheit des Betrachterstandpunkts gewahrt.

Die Straßenlaterne und das aus dem Haus nach außen fallende Licht erhellen die unwirklich, und doch so realistisch anmutende Szenerie. Das Haus ist offenbar in allen Details einem Naturvorbild nachgestaltet, wenn auch der eigentliche Bezug dieser Nachbildung nicht konkretisierbar wird. Der Außenputz, Details der Eingangstür, Dachschindeln und das teils verkratzte Glas der Fenster vermitteln in ihrer haptischen Qualität einen Eindruck von Authentizität. So entsteht die paradoxe Wirkung einer geradezu filmischen Illusion, die jedoch durch die merkwürdige Zwischengröße, das künstliche Grün des Rasens und das Bewusstsein, sich doch selbst schon in einem Innenraum zu befinden, gebrochen wird.

Durch die Fenster des Hauses wird ein Innenraum einsichtig. Wir erkennen stumpf moosgrün gestrichene Wände. Die dunkle Holzdecke und ein orangebrauner Filzteppich akzentuieren den trostlosen, etwas muffigen Charakter des Interieurs. Einziges Mobiliar sind eine stoffbespannte rötliche Hängelampe sowie ein blau gestrichener, offenbar stark abgenutzter Kinderstuhl. Vor diesem sind Bauklötze aus Holz, in bunten Farben lackiert, verstreut, einige von diesen zu einem Sockel geschichtet. Als „Fallermodell“ findet sich auf diesem das besagte „Siedlerhäuschen“ en miniature wieder, und zwar so, wie es vermutlich jeder von uns aus der eigenen Kindheit erinnert, vielleicht selbst einmal zusammen gebastelt hat. Hier wird deutlich, dass der Bezugspunkt des Hauses nicht in einer tatsächlich gebauten Architektur, sondern eben in diesem Spielzeugmodell zu finden ist. Im Wechselverhältnis zwischen dem vor uns in Trockenbauweise errichteten Hausmodell und dem winzig kleinen, aus fragilen Teilen zusammen gefügten Spielzeug akzentuiert sich die Wirkung verschränkter Wirklichkeitsebenen, die sich kaum kohärent miteinander verknüpfen lassen. Als mögliche Perspektive drängt sich gar die Frage auf, ob wir selbst uns nicht in einem ebensolchen, nun maßstäblich übergroßen Gebäude befinden, als seien wir in den Bauch einer gigantischen Babuschka-Figur eingegangen.

Wie ein Voyeur dringen wir dann in das Innere des Hauses ein, überraschen ein ganz intimes Geschehen, dessen Akteur allerdings für einen Augenblick seinen Platz verlassen hat. Auch wenn wir das Haus umschreiten, durch die verschiedenen Fenster Einblick nehmen, stoßen wir nicht auf das Kind, das scheinbar hier gerade noch am Werk gewesen ist. Zudem irritiert wiederum die Maßstäblichkeit, denn entgegen dem durch die äußere Geschossgliederung vermittelten Eindruck ist das Haus innen nicht in Etagen und unterschiedliche Räume gegliedert, sondern einfach nur durch das besagte Spielzimmer mit spärlichem Mobiliar und Acessoires besetzt. Das Haus umschließt nur diesen einen Kabinettraum mit einem Kinderstuhl, der – eben als Kinderstuhl - eine für uns zwar vertraute Dimension aufweist, im Kontext des Hauses dann jedoch zu riesigen, maßlos übersteigerten Ausmaßen aufwächst. 

In dieser Installation umspielt der Künstler unterschiedliche Modellsituationen. Das Haus im Mittelformat bildet das zentrale Element der räumlichen Inszenierung. Einerseits lässt sich dieses auf den Arbeitsbereich des Architekten beziehen. Auch dieser schafft in Skizzen, Modellen oder digitalen Projektionen ein gedankliches Konstrukt, das auf die architektonische Umsetzung und die Gestaltung unserer Lebenswirklichkeit zielt. Im Modell konkretisiert sich eine Idee, die – falls Auftraggeber und Investor sich finden lassen – dann auch in eine gebaute Form übersetzt wird. Dem Architekten kommt die Aufgabe zu, für Funktionen, ästhetische Vorstellungen, Handlungsmuster eine Hülle zu errichten und diese hierüber in den gesellschaftlichen und urbanen Kontext einzugliedern.

Indem das gebaute Modell jedoch die hierfür üblichen Größenverhältnisse sprengt, bewegt es sich in einem widersprüchlichen Spannungsfeld von Vision und Realität, das im Betrachter vielfältige, auch paradoxe Vorstellungsbilder aktiviert. Während das vom Architekten üblicherweise errichtete Modell aus der Überblicksperspektive erfahrbar ist und dem Betrachter so die Haltung vermittelt, den Entwurf beherrschen, ergreifen und vielleicht gar modifizieren zu können, entzieht sich das Gebäude hier dem Zugriff des Betrachters. Doch es ist wiederum nicht so groß, dass es ohne Mühe betreten und von Innen erfahren werden kann, nicht einmal die Dimensionen eines Schrebergartenhäuschens werden erreicht. Es bleibt die Ambivalenz von Vertrautheit und Distanz, Greifbarkeit und Unnahbarkeit.  

Das Miniaturbild im inneren des Hauses nimmt diesen Prozess auf. Das nostalgische Ambiente des Interieurs zeigt Spuren von Gebrauch und Abnutzung und richtet so das flottierende Spiel der Assoziationen auf eigene Kindheitserinnerungen oder in der Wirklichkeit des Traumes durchlebte Erfahrungen aus. Das aus Plastikteilen zusammen geklebte Fallerhaus stellt sich zwar relativ eindeutig als Spielzeug dar. Es symbolisiert eine soziale, bürgerlich geprägte Ordnung, in die das Kind sich gleichsam spielerisch einüben soll. Andererseits erscheint das Miniaturmodell – hier fast in eine museale Distanz entrückt - auch als Metapher für ein ganz persönliches Gedankengebäude, als Hort für ganz individuelle Wahrnehmungen und Sehnsüchte, die sich jedem funktionalen, auf Realisierbarkeit drängenden Anspruch widersetzen.

So schafft Dirk Schlichting mit seiner Installation ein Raum greifendes Bild, das in seinen Uneindeutigkeiten, Vielschichtigkeiten und Widersprüchen jedes konkrete Nutzungskonzept umspielt. Jenseits der Antagonismen von Vision und Realität schafft er eine offene, nicht zu bestimmende Situation, in der die Bezüge von Raum und Zeit widersinnig ineinander verschachtelt sind. Lassen wir uns auf die unterschiedlichen, labyrinthisch verwobenen Bild- und Vorstellungsstränge ein, so finden wir Zugang in eine „Spiegelwirklichkeit“, in der die Dimensionen von Logik und Verstand ausgehebelt sind. Im Spiel von Licht und Schatten, innerer und äußerer Bilder artikuliert sich eine befreiende Perspektive, in der ein „utopischer“, also ein nicht wirklich möglicher, bloß gedachter, geträumter und gefühlter Ort Gestalt gewinnt.

Dr. Christoph Kivelitz

 
 
     
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