Hier entsteht für Sie  
 

Der häusliche Brutalismus des Dirk Schlichting

In Berlin herrscht bekanntermaßen Wohnungsknappheit. Während sich im Bereich des sogenannten bezahlbaren Wohnraums in der Stadt sehr wenig zu ereignen scheint, geschieht umso mehr im Bereich des Unbezahlbaren. Nachverdichtung und luxuriöser Dachausbau sind hier die Projekte der Stunde. Dabei soll es sogar, für Berlin ansonsten gänzlich untypisch, Aufbauten mit architektonischen Ambitionen geben, denen die vorhandene Bausubstanz nicht Rahmen und Basis genug ist. So kommt es bisweilen zu der Notwenigkeit, Stützen durch das Haus und somit durch den anderweitig vermieteten Wohnraum zu ziehen um zu tragen, was sich auf dem Dach des Hauses ereignen soll. Solche, von den Mietern selten willkommen geheißenen nachträglichen Einbauten bei laufendem Wohnbetrieb mögen für Architekten und Bauleute eine Herausforderung darstellen, für die Mieter sind sie mit Sicherheit ein ganz besonderes Ereignis, das auch auf Jahre hin ein ganz neues Wohnerlebnis verspricht.

Die im Rahmen des Projektes Hier entsteht für Sie entstandene Betonsäule für MyBerlinWall gewinnt ihren Realismus aus diesem ortstypischen Phänomen, auch wenn ihr Anliegen ein gänzlich anderes ist. Bei Dirk Schlichtings Projekt für MyBerlinWall bleibt die Wand erstmals frei und ungenutzt. Schlichting verlagert seine Arbeit in das angrenzende Wohnzimmer und platziert eine stattliche Betonsäule in einem Raum, dem es an Gegenständen, Kunstwerken und Möbeln in keiner Weise mangelt. Hier findet sie just zwischen einem Sofa und einem, diesem gegenüber stehenden Sessel ihren Platz. Die Säule ist in grauer Sichtbetonoptik gestaltet. Eine hölzerne Verschalung strukturiert mit unsauberen Übergängen die Flächen, zur Decke hin ragen rostige Moniereisen aus dem Gebilde.

Bei näherem Hinsehen überzeugen einige wesentliche Details von der detailgenauen Abbildhaftigkeit der Säule. Die Oberfläche des Betons weist zahllose Haarrisse auf. Braune Verfärbungen lassen erste Rostschäden im Inneren der Konstruktion erkennen: Materialtypische Fehlerhaftigkeit steht hier überzeugend für die Echtheit des Gegenstandes ein. Bei näherem Hinsehen wird allerdings auch deutlich, dass in der Verschalungstechnik der Säule ein deutlicher Unterschied zu anderweitig vertrautem Sichtbeton zu erkennen ist. Die Binnenstruktur der hölzernen Verschalungselemente ist hier, nicht wie sonst, ein im Abdruckverfahren hergestelltes Porträt des jeweiligen, zum Einsatz gebrachten Holzstückes. Die Holzoptik ist verdankt sich vielmehr einer manuell hergestellten Zeichnung, die nur scheinbar und grob das zu erwartende Muster nachahmt. Trotz dieses Verfremdungssignals jedoch, ist das Auge willig die vermeintliche Beschaffenheit der Säule zu glauben und ihr auf dieser Grundlage großes Gewicht zuzuerkennen. Der Umstand, dass dieses wuchtige Gebilde auf dem Dielenboden zu ruhen scheint, ohne dabei erhebliche statische Probleme für Boden und darunter liegende Decke zu verursachen, markiert einen entscheidenden Übergang aus dem Bereich der Wahrnehmung in den Bereich des auf Mutmaßungen beruhenden Staunens.

Der Umstand, dass die diagonale Ausrichtung der Säule dem Grundriss des Raumes zu widersprechen scheint um die Anlage eines neuen architektonischen Grundrisses zu begründen, sorgt für weitere Irritationen. Es wird ein Raum vorstellbar, in dem die Säule mit Wänden korrespondiert, die sich nicht an den Stellen befinden, wo in der Wahrnehmung des derzeit vorhandenen Raumes die Wände anzutreffen sind. Dieser Gegen-Raum wird von der Säule aus denkbar und entzieht damit der vertrauten Umgebung den vormals alleinigen Anspruch auf räumliche Gültigkeit.

Auch wenn die Ausdehnung zwischen Dielenboden und Stuckdecke durchaus beeindruckend und wirkungsmächtig ist, so kommt einer Säule, welche die Decke weder erreicht noch durchdringt ganz offensichtlich keinerlei tragende Rolle zu. Dies wiederum legt die Frage nach der Funktion dieses Bauelements nahe. Ihr disruptiver Auftritt im Wohnumfeld, die gänzlich unpassende Platzierung innerhalb eines Möbelensembles das ursprünglich zur Kommunikation seiner Benutzer einladen sollte, die völlige Bezugslosigkeit zu der sie umgebenden Architektur, all dies lässt eine einzige, sich aus der Anschauung begründende Antwort zu: Es ist die Funktion dieser Säule im Weg zu stehen.

Darüber hinaus jedoch ermöglicht es die Säule dem Bewohner der Wohnung auch, im Jahrhundertwende Chic mit Stuckdecke, Kachelofen, Dielenboden, Flügeltüren leben zu können, ohne dabei auf den dem Sichtbetonelement innewohnenden Zauber des Brutalismus gänzlich verzichten zu müssen!

Dirk Schlichtings Hier entsteht für Sie ist ein Projekt mit Zukunft und Perspektive. Für den hier besprochenen Wohnraum sind bereits weitere Betonsäulen angedacht, die endlich einen alternativen Grundriss unmittelbar anschaulich und physisch eindrücklich erfahrbar werden lassen. Das bezieht ganz selbstverständlich auch die Nachbarwohnung mit ein.

Ein Musterkatalog, der es auch einem breiten Publikum ermöglichen soll, das eigene Interieur mit verschiedensten Betonsäulen aufzuwerten, ist bereits in Arbeit.

Rafael von Uslar

 

 
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