Text von Andreas Steffens zur Arbeit

 Den Schiffbruch hat Dirk Schlichting - in mühevoller monatelanger Arbeit – nun hinter sich gebracht – zum Glück nicht seinen eigenen; bleibt abzuwarten, wohin er – vielleicht – einmal den Odysseus, den sein namenloses Schiff, das in der Städtischen Galerie Herne strandete, mit sich brachte, hinaus in die notwendige Irre des Zusichkommens leiten wird. Oder ist er schon unterwegs? Gesehen hat ihn niemand. Jedenfalls scheint er von dem Rettungsboot keinen Gebrauch machen zu wollen, es ist leer. Aber wie könnte er es, da es in der Wand feststeckt, die es, ohne eine Spur der Zerstörung, zu durchbrechen begonnen hat?
Eine Katastrophe scheint sich ereignet zu haben, aber ohne Gewalttätigkeit; ihr gewaltiger Überrest des Schiffskorpus wirkt sanft, nicht lädiert; selbst die geborstenen Mäste wirken nicht wie Spuren eines Schreckens. Fast einladend zu weiterer Fahrt. Zwischenstop in Herne zu großer Fahrt.
Das Ereignis des Unmöglichen, in dem alles durcheinander geschieht, alles sich in alles verwandeln, sich durchdringen und verformen kann, ohne Gewalt zu leiden, ist der Traum. Zum ästhetischen Medium gemacht hat ihn die Bewegung des Surrealismus.
Zu Beginn seines ersten Manifestes von 1924 schreibt André Breton: Der Mensch, dieser entschiedene Träumer, von Tag zu Tag unzufriedener mit seinem Los, vermag kaum alle Dinge ganz zu begreifen, die er zu gebrauchen gelernt hat und die ihn zu seiner Gleichgültigkeit geführt haben oder zu seiner Anstrengung, fast immer zu seiner Anstrengung, denn er hat eingewilligt zu arbeiten, zumindest hat er sich nicht gesträubt, sein Glück zu versuchen.
Dirk Schlichting hat eingewilligt, zu arbeiten, sehr hart zu arbeiten, über Monate hin, in handwerklicher Knochenarbeit, um des Glückes willen, etwas zu erkennen, was seine Bekanntheit zur Verborgenheit zwingt. Am besten begreift man, was man gedankenlos besitzt,  indem man es erfährt, wo es nicht hingehört, durch Verfremdung.
Was ein Schiff ist, glauben wir zu wissen; er zeigt uns, dass wir gar nichts wussten, mit seinem Schiff, das keines ist, und doch eines.
Seine Verfremdung ist eine doppelte: das Haus verfremdet das Schiff, das Schiff das Haus – und in dieser doppelten Bindung ergeben sie ein Rätselganzes, das beide sich aneinander erhellen läßt.
Der Surrealismus war eine Bewegung der literarischen und malerischen Imagination, Plastik hat er kaum hervorgebracht. Hier haben wir eine, eine surrealistische Plastik: ein gebautes Traumbild. Schlichtings Schiff, das keines ist, und doch die getreuen Maße und Dimensionen eines wirklichen Schiffes hat, ist die Materialisierung des Moments nach dem Erwachen: das Bild beginnt, zu vergehen und das Bewusstsein in dem Moment schon wieder zu verlassen, in dem dieses seiner inne wird – um im nächsten Moment festzustellen, dass es nicht vergehen kann, weil es gegenständlich geworden ist. Der Traum wurde Wirklichkeit.
Als handgreiflich vorhandenes Objekt ist dieses Traumbild eine wunderbare Metapher für das, was in jeder produktiven Menschenarbeit geschieht. Alle zivilisatorische Wirklichkeit, in der die menschliche Hand im Spiel ist, ist materialisierte Vorstellung.
Die Passung des erfundenen, funktionslosen Raumgebildes in den existierenden Raum des Hauses, ist so perfekt, dass die Plastik zur Architektur und die Architektur zur Plastik wurde. So überzeugend, dass man nicht daran denken mag, dass es nur von zeitlich begrenzter Dauer sein, und nahezu spurlos wieder verschwinden wird, wenn seine Zeit der Ausstellung abgelaufen ist.

( Dieser Text ist ein Teil der Eröffnungsrede und des Katalogtextes zu liquid area/ Wasserwege. Andreas Steffens hat die Eröffnungsreden, sowie den -sehr empfehlenswerten-  Katalogtext zur gesamten Ausstellungsreihe verfasst.)

Expedition, 2010
Installation im Außen- und Innenbereich der Städtischen Galerie Herne
16 x 5m, Holz

 
     
  zurück   Übersicht: ortsbezogene Arbeiten  
 

 

zur Startseite